Krise – Kritik – Kohäsion: Zeitenwenden und Konfigurationen religiös-symbolischer Ordnungen (GK-UHH-03)
Nicht nur während der Corona-Pandemie, der Friedlichen Revolution in der DDR, im Osmanischen Reich oder in den Umwälzungen des Spätmittelalters bis zur Reformation: Religionen treten als Krisenakteurinnen in Erscheinung. Wie präfigurieren Religionen angesichts von Krisendiagnostiken soziale Kohäsion? Was tragen sie für gesellschaftlichen Zusammenhalt aus? Diesen zentralen Fragen widmet sich das über die Landesforschungsförderung geförderte Graduiertenkolleg Krise, Kritik, Kohäsion: Zeitenwenden und Konfigurationen religiös-symbolischer Ordnungen.
Im Zuge kriseninduzierter Prozessierungen von Wissen als symbolische Ordnungen werden mittels Praktiken der Kritik immer auch Fragen sozialer Konfigurationen mitverhandelt, die in direktem Zusammenhang mit Fragen sozialer Kohäsion stehen. Religionsgemeinschaften sind mit ihren religiösen Sinndeutungspraktiken Transformationsansprüchen ausgesetzt und agieren nolens volens als Krisenakteurinnen. Sie wirken krisenverursachend, krisenverstärkend, in konstruktiver Weise krisenbearbeitend, in jedem Fall krisendeutend. Sie greifen in ihren Krisendiagnosen und Kritikpraktiken auf gesellschaftliche, wie im Kontext von Religionsgemeinschaften prozessierte narrativ strukturierte Symbolwelten, Wert- und Normvorstellungen und Ritualpraktiken als Formen verkörperten Wissens zurück.
Das intertheologisch ausgerichtete Graduiertenkolleg der Universität Hamburg und der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg fokussiert in der Bearbeitung des Gegenstandes vier Felder mit entsprechenden Leitperspektiven. Jede der Leitperspektiven soll über je ein Promotionsprojekt in besonderer Weise bearbeitet werden. Das bedeutet: Über eine politische, eine ökonomische, eine ökologische und eine epistemologische Leitperspektive sollen Verbindungslinien zwischen Religion und Kritik, Krisendiagnosen und der Frage nach sozialer Kohäsion in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche untersucht werden. Dabei sollen kommunikativ-mediale Praktiken, Emotions- und Affektpolitiken, Argumentationsstile, soziale Dynamiken und Machtkonflikte in den Blick genommen werden.
Die Felder, die die Leitperspektiven eröffnen, lassen sich beispielhaft wie folgt konturieren:
Feld 1: Politische Leitperspektive
In welcher Weise prägen (post-)koloniale Umbruchserfahrungen und unterschiedliche Zeitkonzepte – z.B. die europäischen Deutungen der muslimischen Moderne oder die Regimewechsel in Deutschland im 20. Jahrhundert – die politische Rolle religiöser Akteur:innen und ihre Versuche, soziale Kohäsion jenseits institutionalisierter Politik neu zu gestalten? Wie entwickeln, reflektieren und begründen religiöse Gemeinschaften in Zeiten von politischen (Um)Brüchen ihre Positionen, Handlungsweisen und symbolisch-praktischen Ausdrucksformen, um Krisen zu deuten, neue Orientierungen anzubieten und sich im „Politischen" als offenem Gestaltungsraum zu verorten? Welche Dynamiken entfalten sich im Kontext gewaltsamer Konflikte und Kriege, wenn sich religiöse Identitäten, Praktiken und Rhetoriken verändern, interreligiöse Beziehungen neu ausgehandelt werden und Religionsgemeinschaften über Mediations- und Integrationsleistungen z.B. im Umgang mit Geflüchteten zur Stärkung sozialer Kohäsion beitragen? Inwiefern werden durch die intertheologische Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Krisenerzählungen und Fortschrittsnarrativen dominante europäische oder islamische Deutungsansprüche relativiert, und wie kann ein solch transnationaler Dialog zur kritischen Neujustierung der politischen Rolle von Religion im öffentlichen Gestaltungsraum beitragen?
Feld 2: Ökonomische Leitperspektive
Die ökonomische Leitperspektive eröffnet ein Feld, in dem die Reproduktion von Gütern zum Zwecke der Befriedigung von spezifischen Bedürfnissen des Konsums in ihrem Verhältnis zu religiösen Akteuren:innen offengelegt und bearbeitbar wird. Dabei liefern ökonomische Ordnungen einen wichtigen Beitrag für soziale Kohäsion, indem sie Akteur:innen über den Arbeitsmarkt in die Gesellschaft integrieren und über zweckrationale Handlungskoordinationen miteinander in Beziehung setzen. Menschliche Subjekte begegnen sich als Transaktionspartner:innen, sind in einem Rahmen wechselseitiger Erwartungen füreinander als formal gleiche Wirtschaftssubjekte und Konsumenten mit bestimmten emotionalen und kognitiven Stilen konstituiert. Allerdings eignet ökonomischen Logiken eine expansive Tendenz, die dazu führt, dass andere Interaktionsformen von ihnen vereinnahmt und nach dem Muster ökonomischer Abläufe gedeutet und gestaltet werden. Eine Steigerung erfahren derartige Entwicklungen, wenn interpretatorische Ausgriffe auf das Ganze des Lebens erfolgen, ökonomische Gesichtspunkte also weltanschauliche oder religiöse Funktionen übernehmen. Die Ideologie des Kapitalismus ist von dieser Art.
Feld 3: Ökologische Leitperspektive
Die ökologische Leitperspektive eröffnet ein Feld, in dem das konstitutive Eingebettetsein des Menschen in die ‚Natur‘ und sein Verkörpertsein ‚als Natur‘ in den Blick kommt und in religiösen Interpretationen kritisch beschreibbar wird. Hintergrund bildet dabei ein weiter Begriff des Ökologischen, der ihn nicht auf biologistische Semantiken reduziert, sondern ihn u.a. im Sinne der evolutionären Selbstregulierungsmechanismen von Ökosystemen versteht, zu denen auch menschliche Lebenswelten gehören. Es ist gegenwärtig allerdings deutlich, dass die Erde selbst in bedrohlichem Maße anthropogen überformt ist, so dass unter ökosystemischen Gesichtspunkten nach einer neuen Anthropologie gefragt werden muss, die relational strukturiert ist und auf eine Verbundenheit von Organischem und Nicht-Organischem setzt: Nicht zuletzt der technologische Fortschritt hat zu Veränderungen geführt, die das ökologische Gleichgewicht und seine Selbstregulierungskräfte massiv gefährden und zerstören. Rhetoriken der Zeitenwende und ihre apokalyptischen Steigerungsformen nehmen diese Erfahrungen auf und verleihen ihnen politische Bedeutsamkeit. Religionsgemeinschaften sind Teil dieser Prozesse, in denen sich die differenzierten Verflechtungen von Kultur und Natur ereignen; sie treten dabei sowohl als Protagonisten als auch als Kritiker:innen und Krisenmarker des Anthropozentrismus auf. Dabei ist u.a. von Interesse, welche historisch wirksamen und konzeptionell einschlägigen Möglichkeiten die in den verschiedenen Religionen verankerten Symbole eröffnen, um Dualismen von Natur und Kultur (Recki 2021) zu überwinden und zu neuen Selbstdefinitionen des Menschen und seiner Stellung im Kosmos zu gelangen.
Feld 4: Epistemologische Leitperspektive
In der Fragilität des Wissens und der natürlichen Begrenztheit des Erkennens liegt es begründet, dass auch religiöses Wissen prekär und umkämpft ist. Damit partizipieren Religionen – an-gesichts einer sich durchsetzenden Anerkennung einer Diversifizierung von Wissensformen – an Konkurrenzen und Konflikten epistemischer Regime. Wie werden in Umbruchszeiten, die immer auch Situationen von epistemischen Krisen mit sich bringen, unter Verwendung welcher Hermeneutiken und unter Rekurs auf welche Autoritäten (z.B. Schriften, Offenbarung) epistemische Ansprüche ausgehandelt bzw. durchgesetzt – innerhalb von Religionsgemeinschaften, aber auch im Verhältnis religiöser Akteur:innen zu ihrer Umwelt? Unter welchen Bedingungen werden religiöse Wissensformen bearbeitet und reorganisiert? Angesichts des neuen, digitalisierungsinduzierten globalen Strukturwandels von Öffentlichkeit stellt sich auch die Frage, welche religionsbezogenen epistemischen Praktiken mit diesem Struktur-wandel einhergehen, und welche Rückwirkungen diese in vielerlei Hinsicht als neu zu beschreibende mediatisierte Praktiken auf das Selbstverständnis von Religionen und religiösen Akteur:innen mit Blick auf ihre Rolle und Funktion in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen haben. Der Begriff der epistemischen Gewalt lenkt die Aufmerksamkeit auf die hegemoniale Durchsetzung bestimmter Positionen. Die Organisation von Wissen stellt sich dann gewaltförmig dar, wenn zur Durchsetzung bestimmter Interessen andere Existenzweisen unterdrückt bzw. ausgelöscht werden. Intertheologische Reflexionen zu religionsbezogenen Epistemologien kommen daher nicht aus ohne eine Analyse des komplexen Verhältnisses zwischen religiösem Wissen, Macht und Gewalt.
Der epistemologischen Leitperspektive kommt im Zusammenhang der vier Felder wie im Gesamtzusammenhang des Projektes eine besondere Funktion zu: Sie theoretisiert noch einmal explizit die Grundfrage des Forschungsinteresses des Kollegs, wie Wissen als symbolische Ordnung kriseninduziert und mittels Praktiken der Kritik adressiert, reformiert und transformiert wird. Damit nimmt Feld 4 in Form einer systematischen Reflexion epistemischer Praktiken eine epistemologisch-theoriegenerierende Rolle ein. In religionstheoretisch bzw. religionsempirisch vergleichender Perspektive wird es möglich, epistemische Zugänge und Praktiken zu unterscheiden, religiös-epistemische Typologien zu erarbeiten und Bedingungen der Genese nachhaltigen, auf sozialen Zusammenhalt und Resilienz abzielenden religiösen Zukunftswissens zu identifizieren.
Beteiligte Wissenschaftler:innen
Organisatorisch werden die verschiedenen Felder von den am Graduiertenkolleg beteiligten Wissenschaftler:innen gemeinsam verantwortet, wobei sich die intertheologische Perspektivierung des Gesamtvorhabens in primären Feldzuständigkeiten verschiedener Theologien bzw. religionsbefasster Fächer widerspiegelt.
Zur Supervision sind erste Zuständigkeiten vorgesehen (endgültige Zuordnungen werden nach Eingang der Bewerbungen für die Promotionsstellen je nach Expertise vorgenommen).
- Politische Leitperspektive
- Ökonomische Leitperspektive
- Prof. Dr. Cem Kara
- Prof. Dr. Christoph Seibert (Stellvertr. Sprecher des Kollegs)
- Ökologische Leitperspektive
- Epistemologische Leitperspektive
- Prof. Dr. Kristin Merle (Sprecherin des Kollegs)
- Prof. Dr. Ze’ev Strauss
Die Universität Hamburg und mir ihr die Kolleg:innen des Graduiertenkollegs trauern um Prof. Dr. Thomas Großbölting, der völlig unerwartet am 11. Februar 2025 verstorben ist. Er fehlt dem Kolleg.