mennoForen WiSe 2021/22Nachlese 12.11.2021
15. November 2021, von Doris Franzbach
Bericht Mennoforum 12.11.2012
Ambivalenz der Normalität – Normalität der Ambivalenzen
Die diesjährige Themenreihe des mennoForums beschäftigt sich mit dem Thema: Was ist normal? Zum ersten Abend wurden Luise Jarck-Albers, Pastorin aus Heide, Axel Richter, Künstler aus Hamburg und Dr. Ina Schmidt, Philosophin und Publizistin aus Hamburg eingeladen. Prof. Dr. Fernando Enns moderierte den Abend und begann ganz passend mit den Worten: „Normalerweise hätten wir heute alle zusammen Suppe gegessen, um uns auf den Abend einzustimmen.“ Ja, normalerweise. Während der Corona-Krise wurde „Normalität“ zu einem wichtigen Begriff. Viele sehn(t)en sich danach. Aber was ist eigentlich normal und wer legt das fest? Mit diesen Fragen beschäftigten sich die Podiumsteilnehmer*innen aus der Sicht ihrer eigenen Profession.
Ina Schmidt referierte zum Einstieg und führte in die Frage ein, woher das menschliche Bedürfnis nach Normalität kommt. Sprachlich sei das Normale, das, was wir mit gutem Grund erwarten dürfen. Demnach beschreibe Normalität immer etwas Vertrautes. Das gäbe den Menschen Halt und Verwurzlung. Es gilt allerdings zu erkennen, dass Normalität immer bedroht sei. Es liegt in der Natur der der Welt, dass Vertrautes durch Krankheit, Tod und andere unvorhersehbare Ereignisse bedroht ist. Der Verlust von Normalität müsse dabei aber nicht zwangsläufig eine Krisenerfahrung sein. Menschen hätten sich das Neue nur noch nicht vertraut gemacht und „Normalität kann eben auch bedeuten, dass wir annehmen, dass alles, was lebendig ist, auch unberechenbar ist“, so Ina Schmidt.
Den Diskussionseinstieg bildete ein Zitat aus dem zum mennoForum verfassten Text von Frau Schmidt: „Normal ist, woran wir glauben können.“ Luise Jarck-Albers beantwortete die Frage, ob der Glaube „so etwas sei“, mit dem Aufzeigen eines Gegensatzes: Zum einen sei der Glaube etwas, was uns die Möglichkeit biete, kreative Gestaltungswesen zu sein und Normalität als konstruierbaren Rahmen zwischen Neuem und Altem zu betrachten. Auf der anderen Seite stelle der Glaube aber auch die großen Anfragen an die Welt und sei damit ein Einschnitt in Normalität. Einig waren sich die beiden Podiumsteilnehmerinnen, dass es sich bei Normalität um eine Sicherheit handle, die wir menschlicher Weise suchen. Glaube, Rituale, Feste zu Lebensumbrüchen, Erleben von Natur und Gemeinschaft, all das wäre unabhängig von einer bestimmten Konfession oder Religion das Suchen nach Sicherheit. Axel Richter stellte fest: „Wir Menschen sind Künstler“ und damit wären wir fähig ungewohnte, neue Taten zu begehen, wo es die Welt erforderlich mache. „Man springt ein paar Mal ins kalte Wasser und schon wird es gewohnt – normal.“ Auch Richter betonte die Ambivalenz der Schönheit der Welt einerseits und die Bedrohung durch Leid auf der anderen Seite. Nach Ina Schmidt liegt Normalität aber nicht in der Abwesenheit dieses Leides, der Trauer und Angst, sondern darin, eine Wertigkeit dessen zu sehen, was wir trotzdem genießen können. Theologisch betrachtet wäre dies die Ambivalenz von Kreuz und Auferstehung, so Jarck-Albers. Normalität wurde von allen Podiumsteilnehmer*innen als die Ambivalenz von zwei Gegensätzen beschrieben.
Fernando Enns beschrieb daraufhin, dass Normalität dann „nur“ eine Konstruktion sei, eine menschliche Konvention Dinge zu sortieren. Diese Konstruktion von Normalität wurde eindrucksvoll deutlich im Praxisbeispiel des Abends. Anna Gaß, ehemalige Jugendpastorin der Vereinigung der Deutschen Mennonitengemeinde, forscht zum Thema: „Fat Liberation Movement“ und macht auf strukturelle und gesellschaftliche Ausgrenzung von übergewichtigen Menschen aufmerksam. Sie persönlich habe jahrelang versucht, sich an die gesellschaftliche „Körper-Norm“ anzupassen und sich dadurch massiv ihrer Lebensqualität beraubt. Spannend war hierbei die Betrachtung der gesellschaftlichen Norm, das vermeintlich Normale, also schlank zu sein, bilde gar nicht die Norm, also den Durchschnitt, der Gesellschaft ab. Auch hierbei handle es sich um eine Konstruktion von Normalität. Das zu erkennen, sei der erste Schritt für persönliche Befreiung und die Grundlage für Veränderung der strukturellen Benachteiligungen. Wir werden alle in ein solche, bestimmte gesellschaftliche Konstrukte geboren (mitunter rassistisch, diskriminierend, kapitalistisch). Die Dekonstruierung sei schwierig und von Status und Fundament der Person abhängig. Aber, so dass vorläufige Fazit: konstruierte Normalität kann auch de-konstruiert werden.
Laura Hoolt, wissenschaftliche Hilfskraft in der Arbeitsstelle Theologie der Friedenskirchen, Uni Hamburg
Hier finden Sie einen Text der Referentin Dr. Ina Schmidt
Hier finden Sie Fotos des mennoForums am 12.11.2021:
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