Fernando Enns: Wie werden wir „friedenstüchtig“?
1. Juni 2024, von Doris Franzbach
© Fernando Enns: Wie werden wir „friedenstüchtig“?
„Friedensperspekiven in Zeiten des Krieges“
Forum Kirche, Bremen 28.05.2024
Wie werden wir „friedenstüchitg“?
(Fernando Enns)
Videoaufzeichnung: https://dieschwelle.de/videos/veranstaltungsvideos
Eine persönliche Einleitung
Ich habe diesen Titel für meinen Vortrag gewählt, weil mich das Wort von der
„KriegstüchJgkeit“ zuJefst verstört. Und ich will dem meine Suche nach der
„FriedenstüchJgkeit“ entgegensetzen. Weil ich es nicht für erstrebenswert halte,
„kriegstüchJg“ zu sein, weder für mich selbst, noch für meine Kirche oder für die GesellschaQ in
der ich lebe. Das Gegenteil ist der Fall. Ich will immer noch besser lernen, wie Frieden erreicht
werden kann, und ich will an einer gesellschaQlichen Bewegung mitwirken, der es in erster Linie
darum geht, wie Frieden sein und werden kann, wie Krieg beendet wird und wie wir jeden weiteren
Krieg verhindern können. Ich will nicht glauben, dass der Brudermord von Kain an Abel (Gen 4)
alternaJvlos ist. In dieser alten biblischen Geschichte geht es ja eben genau darum: einerseits vor
der grausamsten Realität nicht die Augen zu verschließen – dass ein Mensch den anderen umbringt
(aus welchen Gründen auch immer), andererseits geht es darum zu zeigen, dass die Tatsache, dass
andere dies tun noch keine LegiJmität darstellt, den Mörder wiederum zu töten. In der biblischen
Geschichte vom Brudermord – einer Realität – schützt Go] den Mörder, weil es die einzige
Möglichkeit ist, dass neues Leben gelebt werden kann und die Gewalt überwunden wird. Diesen
„unmöglichen“ Go] zu glauben heißt, sich nicht von der Gewalt „hypnoJsieren“ zu lassen (Teilhard de
Chardin), sondern die Befreiung von der Gewalt zu suchen, für sich selbst wie für den anderen – und
sei es der Brudermörder. Wie also werden wir friedenstüchJg?
Menschenleben werden vernichtet!
Ich sage dies alles vor dem Hintergrund der unfassbar hohen Zahlen von getöteten Menschen – in der
Ukraine, in Israel, in Gaza, im Sudan – und in weiteren Kriegsschauplätzen, deren Zeugen wir
zurzeit sind.
Das NOS Journal aus den Niederlanden (am 25.05.2024)1 berichtete gerade von den neuesten Zahlen:
Ukrainische Militärs melden, dass sie seit Beginn des militärischen Überfalls auf die gesamte
Ukraine (24. Feb. 2022) eine halbe Million russische Soldaten
„ausgeschaltet“ hä]en – d.h. getötet, verwundet, oder vermisst. Im Moment beliefen sich die Zahlen
auf 6 – 8.000 pro Woche! Das russische Militär wiederum meldet, dass sie ihrerseits 440.000
ukrainische Soldaten „ausgeschaltet“ hä]en. Das wäre dann insgesamt bald 1 Million. Zur Erinnerung:
die Schlacht bei Verdun während des 1. Weltkrieges forderte ca. 600.000 getötete Soldaten – und
dies gilt bis heute als eine unfassbar hohe Zahl (ca. so viele Einwohner wie Bremen hat).2
1 h#ps://npo.nl/start/serie/nos-journaal-20-00-uur/seizoen-60/nos-journaal_93617/afspelen
2 h#ps://de.wikipedia.org/wiki/Bremen
1
© Fernando Enns: Wie werden wir „friedenstüch6g“?
Freilich, wir sehen hier auch einen „Krieg der Zahlen“, dem mit größtem Misstrauen zu begegnen ist.
Unabhängige Untersuchungen ergeben völlig andere Zahlen: 35.000 idenJfizierte getötete
Ukrainer:innen und 54.000 Russ:innen.3 Experten erklären diese große Diskrepanz aber auch damit,
dass unter „ausschalten“ eben auch gemeint sei: Verwundete, nicht mehr Wehrfähige, Vermisste… und
wenn man diese Zahlen hinzu zähle, dann seien die Unterschiede gar nicht mehr so hoch.4
Auch aus Gaza werden täglich neue Zahlen gemeldet, die sich kaum bestätigen lassen. „Die humanitäre
UN-Abteilung zählt knapp 35.000 Tote. Jetzt heißt es, dass nur 25.000 identifiziert sind. Es fehlen
Angaben zu 11.200 Frauen und Kindern“5 (Stichtag 30. April 2024).6 Was hier zusätzlich schockiert
ist die hohe Zahl an getöteten Frauen und Kindern: 70%! – Dies gilt auch für den Überfall der Hamas
auf die Zivilbevölkerung Israels: Am 7.
Oktober 2023 werden über 1.200 Menschen getötet, mehr als 240 wurden als Geiseln in den
Gazastreifen verschleppt.7
Ich mute uns diese Zahlen hier so ausführlich zu, weil ich meine, dass wir es uns nicht leisten
können, „über“ diese Kriege zu sprechen oder über „unsere Rolle“ in diesen nachzudenken, ohne einen
Moment inne zu halten, und dieser getöteten Menschen zu gedenken. Es sind Söhne, Väter, Enkel… es
sind Mütter, Omas, Kinder…
Und nochmals: wir müssen die Verwundeten, die Traumatisierten, die Vermissten immer noch hinzu
zählen…
Bei allen unsere Überlegungen und Debatten, so unterschiedlicher Meinung wir auch sein mögen,
kommen wir an diesen verlorenen und verwundeten Leben nicht vorbei. Alles was wir sagen und denken,
muss unter der Vergegenwärtigung dieser Opfer geschehen – zu denen täglich (!) neue hinzukommen. –
Sollte es noch irgendeines weiteren Grundes, eines weiteren Argumentes bedürfen, sich ernsthaft mit
der Frage auseinander zu setzen, was wir hierzu beitragen? Im schlimmsten Falle eben, diesen
‚Wahnsinn‘ mit anzutreiben, im besten Falle aber die täglich drängende Suche danach, wie das Töten
aufhören kann.
Wie werden wir „friedenstüchtig“?
Vor diesem Hintergrund die folgende Beobachtung:
Leider keine Zeitenwende!
Die zunehmende Militarisierung des poli+schen Diskurses in Deutschland
Heribert Prantl, Autor und Kolumnist der Süddeutschen Zeitung, behauptet in seinem jüngsten Buch
„Den Frieden gewinnen. Die Gewalt verlernen“, dass es keine „Zeitenwende“ gab – wie vom deutschen
Bundeskanzler verkündet und nun täglich in den Medien wiederholt. Prantl meint:
„Es gab keine Zeitenwende, und es gibt sie nicht. Es war und ist dieser Begriff der Versuch,
Grausamkeit zu beschreiben und dem Entsetzen darüber Ausdruck zu geben. Und es ist dies das
Schlüsselwort für die Rückkehr der PoliJk ins Militärische.“8
3 h#ps://npo.nl/start/serie/nos-journaal-20-00-uur/seizoen-60/nos-journaal_93617/afspelen
4 Ebd.
5 Ocha – Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten.
6 h#ps://taz.de/Tote-in-Gaza/!6007459/
7
h#ps://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/547184/sechs-monate-nach-dem-angriff-der-hamas-auf-
israel-chronologie-des-kriegsgeschehens/
8 Heribert Prantl, Den Frieden gewinnen. Die Gewalt verlernen, München 2024, 9-10.
2
© Fernando Enns: Wie werden wir „friedenstüch6g“?
Die Rückkehr der PoliJk ins Militärische – auch in Deutschland: Das will ich an einigen Beispielen
nachvollziehen:
Die Rede des Verteidigungsministers Pistorius (bei allen aktuellen Umfragen stets als der
beliebteste Minister unter der Bevölkerung ermi]elt), „Wir müssen kriegstüchJg werden“.9 Damit ist
gemeint: eine Aufrüstung „an allen Fronten“. Und die dahinter liegende Hoffnung ist – wie bereits im
Kalten Krieg – eine effekJve Abschreckung! Dem folgt, wie selbstverständlich, die Forderung einer
Wiederbelebung der Wehrpflicht für Männer und Frauen, vor allem durch jene Volksparteien, die sich
weiterhin als „christlich“ bezeichnen.
Die versprochenen „Sonderschulden“ von 200 Mrd. Euro sind schnell aufgebraucht, so dass bereits
jetzt klar wird, dass woanders gespart werden muss, wenn man denn „kriegstüchJg“ werden will. In
den aktuellen Haushaltsdeba]en wird rasch klar, dass folglich nur beim Sozialen gespart werden kann
– zugunsten des Militärischen. Aber auch das AuswärJge Amt sowie das Entwicklungshilfeministerium –
zwei klassische Bereiche einer deutschen AußenpoliJk, in der auf DiplomaJe und wirtschaQliche
Zusammenarbeit gesetzt wurde – stehen auf dem Prüfstand. Finanzminister Lindner stellt die
verräterische Frage: "Verbessern wir mit unserem Steuergeld wirklich Lebenschancen oder dienen die
Projekte deutschen Interessen?"10 Hiermit wird die vordringliche PerspekJve deutlich: es sind die
deutschen (!) Interessen, nicht primär Friedensinteressen. Lindner weiter: "In der internaJonalen
PoliJk müssen harte Sicherheit und die Unterstützung der Ukraine Priorität haben. Da geht es um
Frieden und Freiheit für Deutschland".11 – Sicherheit (die eigene!) wird gleichgesetzt mit
militärischer Stärke, hinter der alle anderen Interessen oder Ideen zu Friedensbemühungen
zurücktreten müssen. – Dietrich Bonhoeffer ha]e bereits 1934 in seiner berühmten Fanö- Rede auf
diesen verhängnisvollen Fehlschluss hingewiesen und davor gewarnt, Frieden nicht mit Sicherheit zu
verwechseln. „Es gibt keinen Frieden auf dem Weg der Sicherheit“ war seine Einsicht und BotschaQ.12
Die Rückkehr der PoliJk ins Militärische – in Deutschland.
Vor einem Monat (25.04.2024) hat „[d]er Bundestag [hat] beschlossen, den 15. Juni zum jährlichen
naJonalen Veteranentag zu erklären, um den Einsatz und den Dienst akJver und ehemaliger Soldaten
der Bundeswehr zu würdigen.“13 Dem Antrag „Für eine umfassende Wertschätzung – Einen naJonalen
Veteranentag einführen und die Versorgung von Veteranen und deren Familien verbessern“ sJmmte das
Parlament mit großer Mehrheit zu.14 Das Anliegen, für ehemalige Soldat:innen und ihre Familien zu
sorgen, ihre Verwundungen an Leib und Seele endlich ernst zu nehmen und alles für ihre mögliche
Heilung zu tun, ist zu begrüßen. Allerdings lehren Erfahrungen aus anderen Ländern, dass
„Veteranentage“ in aller Regel dazu dienen, ein heldenhaQes NarraJv im Sinne der Aufrüstung zu
entwickeln, ansta] das bleibende Leid der Soldat:innen tatsächlich ins Zentrum zu stellen.15 Täte
man dies, dann würde das sicherlich nicht zu einer gesteigerten „KriegstüchJgkeit“ beitragen.
Insofern ist
9 h#ps://www.youtube.com/watch?v=J835TJ0j1yY&ab_channel=WDRaktuell
10 h#ps://www.zeit.de/polick/deutschland/2024-05/chriscan-lindner-haushalt-deutsche-interessen
(11.05.2024)
11 Ebd.
12 Dietrich Bonhoeffer, Kirche und Völkerwelt: in: Dietrich Bonhoeffer Werke Bd. 13: London:
1933-1935, Gütersloh 1994, 298-301.
13 h#ps://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2024/kw17-de-veteranentag-993234
14 Ebd.
15 Vgl. Willie James Jennings, War Bodies: Remembering Bodies in a Time of War; in: Post-Trauma6c
Public Theology, edited by Stephanie N. Arel and Shelly Rambo, Palgrave Macmillan, 2016, 23-35
3
© Fernando Enns: Wie werden wir „friedenstüch6g“?
hier größte Skepsis gegenüber den eigentlichen MoJven geboten. – Und warum sollte es eigentlich ein
„naJonaler“ Gedenktag sein? Wäre ein europäischer Tag nicht friedensförderlicher, oder gar ein
internaJonaler Tag, so dass dieser Tag niemals zu naJonalisJschen Heldenverehrungen missbraucht
werden könnte?
Die Rückkehr der PoliJk ins Militärische. Die GeneraJon des 2. Weltkrieges ist kaum noch unter uns.
80 Jahre – so lang hält ein kollekJves Gedächtnis, meinte Jan Assmann. Wenn er recht hat, dann
könnte hier eine Ursache vermutet werden, warum das Militärische scheinbar auch bei uns wieder so
rasch mehrheitsfähig wird. 35 Jahre nach der gewalyreien RevoluJon in der DDR (eine GeneraJon) und
der versuchten Aussöhnung in Europa sind wir überrascht von der Wucht und dem Ausmaß der Rückkehr
einer vermeintlichen BlockkonfrontaJon, die – nach Aussagen einiger Experten:innen – bereits jetzt
gefährlicher ist als am Ende des sogenannten ‚Kalten Krieges‘.16 Ist es die wiedererweckte Angst
vor
„dem Aggressor“, die PoliJk, aber auch weite Teile der Bevölkerung scheinbar alternaJvlos wieder in
die Militarisierung treibt? Hier könnte eine zweite Ursache liegen. Denn Angst, wenn man zulässt,
dass sie handlungsleitend wirkt – so lehrt uns die Psychologie – führt zu insJnkJvem Verhalten:
„Flee or fight“ (or freeze) – Flucht oder Kampf (oder eben Lähmung). Da weder Flucht noch Lähmung
eine AlternaJve für eine „machtbewusste“ PoliJk sein kann, bleibt nur der Kampf. – Zu fragen ist
freilich: Müssen wir uns denn auf insJnkJve Verhaltensmuster beschränken oder ist es nicht vielmehr
so, dass wir uns gerade in SituaJonen der Bedrohung (und die will ich hier keinesfalls leugnen) auf
Erlerntes besinnen müssten, sei es aus Erfahrung oder Erkenntnissen, sei es aus Haltungen oder
Überzeugungen, so dass sich alternaJve HandlungsopJonen ergeben würden?
– Sta]dessen beobachten wir die Eskalierung und Überbietung an Rufen nach Waffen und deren
Reichweiten für die Ukraine. (Wieviel Vertrauen sollten wir in PoliJker:innen haben, die uns vor
Monaten noch erzählten, dass, wenn wir nur unsere deutschen Panzer lieferten, das Töten rasch
vorbei wäre, weil Russland dann besiegt werden könne?).
In einem öffentlichen Dialog an der Universität Halle mit Michael Roth, dem Vorsitzenden des
AuswärJgen Ausschusses des Deutschen Bundestages, sagte er tatsächlich sinngemäß: Menschen
behaupten, die Lage sei komplex. Aber das sei sie gar nicht. PoliJk müsse
„vereinfachen“, um handlungsfähig zu bleiben. Im Ernst? Das nenne ich nicht nur Vereinfachung,
sondern KonstrukJon von Realitäten.
Prantl behauptet: „Die einzige Zeitenwende, die diesen Namen verdienen würde, wäre der Augenblick,
in dem die Gezeiten der Gewalt ein Ende hä]en, der Menschheitstraum sich erfüllte und der ewige
Friede einkehrte.“ Und stellt die Frage: „Wie kommt man dieser Zeitenwende näher?“17
Die einzig wich+ge Frage: Wie werden wir friedenstüch+g?
Aus friedensethischer PerspekJve kann die leitende Fragestellung hier nicht lauten: Wie ist
„der Feind“ zu besiegen? Denn diese Frage konstaJert gleich zwei Voraussetzungen, die zu
hinterfragen sind:
1. Wer ist der „Feind“? Wer definiert „den Feind“? Ist es eine ganze NaJon, ein Volk? Darf man so
undifferenziert von Millionen von Menschen sprechen? Ist es ein Präsident? Das personifizierte Böse?
Ein Kirchenoberhaupt?
16 h#ps://www.swp-berlin.org/10.18449/2022A28/
17 Heribert Prantl, Den Frieden gewinnen. Die Gewalt verlernen, München 2024, 10.
4
© Fernando Enns: Wie werden wir „friedenstüch6g“?
2. Was heißt „besiegen“? Die Aggression stoppen und zurück zum status quo ante? Es wird nicht so
sein, wie vorher, nach so vielen Toten. Für niemanden wird es wieder so sein, kann es nicht. Also
kann die sinnvolle Frage ja nur lauten: Wie kann es Frieden geben, für alle Beteiligten? Das aber
setzt wiederum voraus, dass auch tatsächlich alle Beteiligten an dieser neuen ZukunQ mitwirken. Die
Hoffnung auf einen Frieden (für alle), der aus dem „Besiegen“ des vermeintlichen Feindes erho{ wird,
ist m.E. unrealisJsch.
Daher die drängende – und entscheidende Frage: Wie werden wir friedenstüchJg? An anderen Stellen
habe ich hierzu friedenstheologische und -ethische Argumente vorgetragen.18 Auch haben wir in der
ökumenischen Bewegung nicht nur den
Zusammenhang von Frieden und GerechJgkeit erkannt und bekräQigen diesen stets aufs Neue. Wir haben
darüber hinaus in den vergangenen Jahren (während des ÖRK Programms
„Pilgerweg der GerechJgkeit und des Friedens“) auch vermehrt unser Augenmerk darauf gerichtet, wie
eine Haltung der Gewalyreiheit – gerade in Zeiten von Bedrohung – gelebt werden kann, und von
vielen tatsächlich auch gelebt wird.19 Wir haben erkannt, welche spirituelle KraQ dazu nöJg ist,
die aus dem Glauben erwachsen kann, nicht nur in seiner christlichen Prägung, sondern auch in den
anderen Religionen. Hierzu gehört freilich eine selbst-kriJsche Auseinandersetzung mit der eigenen
GlaubenstradiJon, in der es – auch das gilt für alle Religionen – immer wieder zu
GewaltlegiJmaJonen durch vermeintlich gö]liche ErmächJgungen kam und kommt. Vor allem, wenn die
betreffenden Religionsanhänger an der Macht sind oder eine enge poliJsche Liaison mit den poliJsch
Machthabenden eingeht, oder auch nur schlicht indifferent bleibt, nach dem Mo]o: „Eigentlich soll
nach Go]es Willen kein Krieg sein, aber in diesem Falle…“ – und dann folgen all die ‚gelehrten‘,
bekannten ArgumentaJonen, warum Go]/die Bibel/Jesus dies oder das vielleicht doch nicht so gemeint
haben könnte (vgl. wiederum Bonhoeffer 1934).
Auch eine Frage der Perspek+ve – und der Selbstwahrnehmung
Heute will ich den Blick richten auf die neueren postkolonialen Studien, mit denen ich mich seit
einigen Jahren vermehrt auseinandersetze. Hier wird, ganz grob gesagt, die Frage der PerspekJve
radikal gestellt. Bei jeder Aussage, auch sei sie noch so „wissenschaQlich gesichert“, sei zu
fragen: Wer sagt dies in welcher (Macht-)PosiJon, zu wem? Wer wird gehört, und wichJger noch: wer
wird nicht gehört? Welche SJmmen besJmmen einen Diskurs, legen fest, was „raJonal“, „sinnvoll“,
„realisJsch“ oder gar „logisch“ ist? Und welchem Zweck dienen diese Aussagen, auch: welchem Zweck
dient das dahinterliegende
„Wissen“?
Die Philosophin Judith Butler (Professorin für KomparaJsJk und kriJsche Theorie an der University
of California, Berkeley) gilt als eine wegweisende SJmme in diesem Forschungsfeld. In ihrem letzten
Buch „Die Macht der Gewaltlosigkeit“ (im engl. Original 2020 veröffentlicht)20 untersucht sie die
Fragen der PerspekJvität – und der
18 Fernando Enns, Ökumene und Frieden. Bewährungsfelder ökumenischer Theologie. Theologische
Anstöße Bd. 4, Neukirchen-Vluyn 2012.
19 Fernando Enns & Susan Durber (Hg.), Gemeinsam Unterwegs. Auf dem Ökumenischen Pilgerweg der
GerechPgkeit und des Friedens. Theologische Beiträge. Leipzig 2019.
Fernando Enns, Upolu Lumā Vaai, Andrés Pacheco Lozano and BeXy Pries (eds.), Transforma1ve
Spirituali1es for the Pilgrimage of Jus1ce and Peace. PJP Series No. 2, Geneva 2022.
20 Judith Butler, Die Macht der Gewaltlosigkeit, Berlin 2020.
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© Fernando Enns: Wie werden wir „friedenstüch6g“?
Eigenwahrnehmung – im Blick auf Gewaltanwendung und der möglichen Gewalyreiheit. Sie unterscheidet
hierbei zwischen Aggression und Gewalt. Eine gewalyreie Widerstandspraxis verstehe sich nicht
schlicht als Abwesenheit von Gewalt, sondern als eine Umlenkung von Aggression zum Zweck der
Verteidigung der Ideale von Gleichheit und Freiheit. Sie meint:
„Soll Gewaltlosigkeit als ethische und poliJsche PosiJon sinnvoll sein, kann das nicht einfach die
Unterdrückung von Aggression oder die Leugnung ihrer Realität bedeuten; vielmehr gewinnt
Gewaltlosigkeit Bedeutung eben dort, wo Zerstörung am wahrscheinlichsten oder sogar mit Sicherheit
zu erwarten ist“ (Butler 2020, S. 56).
Es geht also bei den Überlegungen zu möglichen gewalyreien AlternaJven zur militärischen Gewalt
keineswegs um eine Verharmlosung des Bösen oder der Gewalt, sondern das Gegenteil ist der Fall.
Dabei will sie Gewaltlosigkeit weniger als moralische Haltung von Individuen in Bezug auf ihre
HandlungsopJonen verstehen, denn als gemeinsame soziale und poliJsche Praxis.
Butler problemaJsiert hier auch die allgemein anerkannte LegiJmierung von Gewalt im Falle der
Selbstverteidigung. Gerade so, wie wir das im poliJschen Diskurs fortwährend beobachten. Sobald von
Selbstverteidigung die Rede ist, scheinen alle Mi]el – auch das massenhaQe Töten von Soldat:innen
und sogar Zivilist:innen als legiJm. Ausgehend von der Frage nach der eigenen PosiJonalität
(Verortung) sei aber stets zu fragen, wer dieses „Selbst“ eigentlich sei und wer das festlegt.
Gerade in Großkonflikten ist das keineswegs eindeuJg.
Und sie fragt:
„Wiegt unsere ethische Pflicht zum Erhalt des Lebens der uns Nahestehenden schwerer als der Einsatz
für das Leben derer, die als uns im geografischen, wirtschaQlichen oder kulturellen Sinn fernstehend
gelten?“ (Butler 2020, S. 72).
Inwiefern lässt sich rechyerJgen, dass ein Leben, dass zu diesem definierten kollekJven
„Selbst“ gehört, schützenswert ist, während ein anderes Laben, dass zu einem konstruierten
kollekJven Anderen (dem „Feind“) gehört, zerstört werden darf? Dies sei, so Butler, nur unter der
Voraussetzung möglich, dass wir Leben ungleich bewerten, also gegen das Prinzip der Gleichheit
allen menschlichen Lebens handeln – ein Wert, der eigentlich verteidigt werden soll.
Als „Test“ führt Butler die Frage der „Betrauerbarkeit“ ein. Sie demonstriert, dass – je nach Nähe
oder Ferne, je nach privilegiertem Status oder eben nicht – einzelne Menschenleben zu Jefst
betrauert werden, andere hingegen hinter groben Zahlen verschwinden und so unsichtbar gemacht
werden. So werde denn auch rasch erkennbar, wie relaJv jene
,Gleichheit‘ sei, auf der das Recht zur (Selbst-) Verteidigung oder auch der Anwendung
,rechtserhaltender Gewalt‘ theoreJsch ruhe.
„Weshalb Gewaltlosigkeit die Verpflichtung auf Gleichheit erfordert, lässt sich am besten verstehen,
wenn man sich klarmacht, dass in dieser Welt manches Leben eindeuJg mehr zählt als anderes und dass
wegen dieser Ungleichheit besJmmte Leben hartnäckiger verteidigt werden als andere“ (Butler 2020,
S. 42).
Wenn die Gleichheit allen menschlichen Lebens also als grundlegender Wert der universalen
Menschenrechte anerkannt ist, dann kann eine „Kriegslogik“ diesen Sachverhalt nicht auAeben, es sei
denn, man verabschiedet sich vorauslaufend von eben jenen Werten, für die man angeblich
militärische Gewalt anzuwenden bereit ist – oder auch nur die Waffen liefert.
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© Fernando Enns: Wie werden wir „friedenstüch6g“?
Für Butler ergibt sich aus eben dieser Einsicht die Pflicht zur gegenseiJgen Gewalyreiheit, etwa im
Unterschied zu theologisch-ethischen Begründungen wie etwa dem neutestamentlichen Liebe- und sogar
Feindessgebot (Mt 5-7), das aber, so behaupte ich, eben letztlich doch auf der gleichen
ArgumentaJonslinie liegt: des Geschaffenseins jedes Menschen nach dem Ebenbild Go]es, woraus sich
jede Wertunterscheidung des einen Lebens gegen das andere verbietet, und das Lebensrecht auch nicht
verwirkt werden kann (übrigens ist das auch die Begründung gegen die Todesstrafe).
Es wird deutlich, dass sich durch eine postkoloniale Epistemologie weitere Einsichten, vor allem in
die weiterhin fortbestehenden systemischen UngerechJgkeiten ergeben, die je und je zu direkten
Gewaltexzessen führen. Dass NaJonen gegeneinander Krieg führen ist hierbei nur die offensichtlichste
IllustraJon der bleibend dominierenden, wenn auch stets muJerenden colonial mindsets: Die unheilige
Allianz von ökonomischen Interessen, militärischer Durchsetzung und ethischen, auch religiösen
LegiJmaJonsversuchen zur Gewaltanwendung von Privilegierten gegenüber vermeintlich ‚Anderen‘.
Hierbei sind ganz grundsätzliche Schlüsselfragen zu stellen, wie sie etwa Ania Loomba vorschlägt:
Wie funkJoniert Sprache? Wie wird Erfahrung arJkuliert? Wie wird SubjekJvität konstruiert?21
Das ökumenische Leitbild vom Gerechten Frieden will „den Erfahrungen der am stärksten Gefährdeten
Vorrang einräumen“. Hier haben wir also bereits eine deutlich machtkriJsche PerspekJve eingeführt.
Sicherheit ist nicht aus der PerspekJve einer NaJon gegen eine andere zu denken, sondern sie muss
stets auf eine menschliche Sicherheit abzielen, die sich unabhängig von naJonalen, kulturellen oder
auch ökonomischen Grenzen bewährt. Und die im Konflikt am stärksten Gefährdeten müssen Vorrang
genießen. – Wenden wir dies auf die Kriege in der Ukraine oder in Gaza an, dann wird klar: 1. Die
Bedrohung oder der Angriff auf eine Zivilbevölkerung ist nicht zu rechyerJgen (Kriegsverbrechen),
weder gegenüber der eigenen (wie etwa in Myanmar) noch gegenüber einer fremden. 2. Weder in der
Ukraine noch in Israel/PaläsJna ist die deutsche Bevölkerung die „am stärksten Gefährdete“ und also
muss unsere Sicherheit nun keinesfalls „das Maß aller Dinge“ sein. – Bevor wir zu irgend welchen
Urteilen gelangen, ist hier ernsthaQ die Frage zu stellen: Wer sind wir in diesen Konflikten? Wie
nehmen wir uns – wie werden wir von anderen wahrgenommen? Wessen Bedürfnisse stehen in unserem
Diskurs an erster Stelle?
Gayatri C. Spivak, indisch-amerikanische LiteraturwissenschaQlerin, hat die entlarvende Frage
gestellt: „Can the subaltern speak“?22 Spivak differenziert die Subalternen nochmals gegenüber den
Unterdrückten und behauptet, diese hä]en keine Möglichkeit, ihren „Sprech- Akt“ zu vollenden. Und
jene in den MachtposiJonen hä]en keine „Infrastruktur“, um auf die
„muted voices“ der Subalternen zu hören. - Als Folgefrage ergibt sich hieraus für die Macht-
Habenden (also auch uns): Welche Art von ,Infrastruktur‘ müsste entwickelt werden, damit die
Subalternen sich selbst (re-)präsenJeren können und ihre eigenen Bedürfnisse ausdrücken könnten? –
Die meisten Menschen, die ich getroffen habe in von Krieg und Gewalt beroffenen Gebieten dieser Welt,
wollen eigentlich nur eines: Es soll auAören! Das Töten soll auAören.
21 Ania Loomba, Colonialism / Postcolonialism. The new criccal idiom. New York 32015.
22 Gayatri C. Spivak, Can the Subaltern speak? Postkolinialität und subalterne Arckulacon, Wien
2007, 78 (?)
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© Fernando Enns: Wie werden wir „friedenstüch6g“?
Ich will hier nur ein Beispiel nennen: Die Kriegsdienstverweigerer in Russland und in der Ukraine,
aber auch in Israel. Ich bezeichne sie – im Sinne Spivaks – hier als „Subalterne“. Sie haben keine
SJmme, oder besser gesagt: Ihre SJmme wird nicht gehört. Sie weigern sich, sich an dem Töten zu
beteiligen und müssen sich daher verstecken oder fliehen. Dabei handelt es sich im Falle der
Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen um ein allgemein anerkanntes Menschenrecht. Wenn Sie
es in unser Land schaffen, habe sie Schwierigkeiten, Asyl zu bekommen. In der EU halten sich derzeit
rund 600.000 Ukrainer im wehrfähigen Alter auf, in Deutschland rund 190.00023 – Hier lautet die
Frage also: Wie können wir (!) eine „Infrastruktur“ schaffen, damit sie gehört werden? Sind wir
bereit dazu – in unserem poliJschen Diskurs? – Es bleibt kleinen NGOs überlassen, Anwälte dieser
„Subalternen“ zu sein.24
Zum Schluss: Wie werden wir friedenstüch+g?
Ich meine, dass die Rückkehr der PoliJk ins Militärische nicht nur eine Sackgasse ist, sondern
höchst gefährlich – für alle Beteiligten. Das Böse an der Gewalt ist ja auch, dass, wenn man sich
einmal auf ihr „Spiel“ eingelassen hat, man zum Spiegelbild werden kann dessen, was man eigentlich
bekämpfen wollte. – Die FriedenstüchJgkeit muss also bereits in unseren Köpfen und Diskursen
anfangen.
Weiterhin ist es für die FriedenstüchJgkeit entscheidend zu fragen, welchen SJmmen wir unsere
primäre Aufmerksamkeit schenken wollen: den Machthabenden, die sich selbst als
„die Guten“ konstruieren gegenüber den „Feinden“? Oder den direkt Betroffenen – den Angehörigen der
ungezählten Getöteten, Verwundeten, Geschändeten, TraumaJsierten? Wie kann IHRE Sicherheit
gewährleistet werden – auf allen Seiten? Hören wir die
„Subalternen“?
Die ZivilgesellschaQen auf allen Seiten müssen sich stärker vernetzen. „Wir weigern uns, Feinde zu
sein“ steht auf dem Stein des Grundstücks der paläsJnensischen Familie Nasser.25
„Stell Dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin“ – erinnern wir Älteren uns noch!? Gerade hier
können die Kirchen eine entscheidende Rolle spielen, da wir hervorragend vernetzt sind – und uns
gegenseiJg auf unser Bekenntnis ansprechen können. Dazu ist kein Segen der Bischöfe oder
Patriarchen nöJg.
Und den Machthabenden können wir ehrlich sagen: Wir wollen, dass Ihr alle gewalyreien Mi]el
ausschöpQ, auch um Druck auszuüben, ja. WirtschaQliche SankJonen helfen, wenn sie tatsächlich
konsequent – auch unter Inkaufnahme des eigenen wirtschaQlichen Schadens – durchgesetzt werden.
DiplomaJsche Bemühungen müssen in alle Richtungen gehen – auch unter der Prämisse, dass vielleicht
andere Staaten (und nicht „der Westen“) diese Gespräche iniJieren oder gar dominieren.
Voraussetzung hierzu wäre, Macht abzugeben – zugunsten des Friedens.
Und schließlich können wir unsere Kirchen auffordern, ein klares Bekenntnis gegen den Krieg, gegen
jeden Krieg auszusprechen. Ist es 90 Jahre nach der Barmer Theologischen Erklärung wieder an der
Zeit, eine so klare, an der biblischen BotschaQ ausgerichteten
23
h#ps://www.rnd.de/polick/zwangsrekrucerungen-in-der-ukraine-wie-kriegsdienstverweigerer-entkommen-
wollen-YBQOEY5YVJC3ZDJXBH4V2ZE6EA.html
24 h#ps://de.conneccon-ev.org/arccle-4081
25 h#ps://www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=Tent+of+Nacons
8
© Fernando Enns: Wie werden wir „friedenstüch6g“?
Zeitansage an die GesellschaQ zu richten? Damals wurden – wenigstens von einigen – die Zeichen der
Zeit erkannt!
Der Krieg ist kein Schicksal, dem man sich schlicht fügen muss – oder darf. Auch Prantl behauptet
in seinem Buch: Realität begründet nicht LegiJmität!
„In der Geschichte vom ersten Bruderpaar Kain und Abel sinnt die Bibel darüber nach, woher die
Gewalt kommt und wie man sie zähmt. Darum nämlich geht es – ihre Realität begründet keine
LegiJmität. Das ist eine enorm wichJge Unterscheidung.“26
Und weiter:
„… Frieden sJQen, das geht nicht ohne Glaube: Frieden braucht das Vertrauen in die Möglichkeit im
Unmöglichen, den Horizont über die Gegenwart hinaus, die Utopie jenseits des Hier und Jetzt.
Frieden sJQen: Das ist die Hoffnung gegen den Augenschein und das Wissen von der KraQ des Wortes.
Glaube ist nicht irraJonal, er ist eine RaJonalität, die weiß: … die Wirklichkeit [ist] mehr als
das, was wir jetzt sehen.“27
Ich schließe mit einem Gedicht von Hilde Domin, jener deutsch-jüdischen „Subalternen“, die ihre
SJmme im Exil fand…
Abel steh auf28
Abel steh auf
es muss neu gespielt werden
täglich muss es neu gespielt werden täglich muss die Antwort noch vor uns sein die Antwort muss ja
sein können
wenn du nicht aufstehst Abel wie soll die Antwort
diese einzig wich9ge Antwort sich je verändern
wir können alle Kirchen schließen und alle Gesetzbücher abschaffen in allen Sprachen der Erde
wenn du nur aufstehst und es rückgängig machst die erste falsche Antwort auf die einzige Frage
auf die es ankommt
steh auf
damit Kain sagt
damit er es sagen kann Ich bin dein Hüter Bruder
wie sollte ich nicht dein Hüter sein Täglich steh auf
26 Heribert Prantl, Den Frieden gewinnen. Die Gewalt verlernen, München 2024, 209. 27 Heribert
Prantl, Den Frieden gewinnen. Die Gewalt verlernen, München 2024, 230. 28 Hervorhebungen von FE
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© Fernando Enns: Wie werden wir „friedenstüch6g“?
damit wir es vor uns haben dies Ja ich bin hier
ich
dein Bruder
Damit die Kinder Abels sich nicht mehr fürchten weil Kain nicht Kain wird Ich schreibe dies
ich ein Kind Abels
und fürchte mich täglich vor der Antwort
die LuQ in meiner Lunge wird weniger wie ich auf die Antwort warte
Abel steh auf
damit es anders anfängt
zwischen uns allen
Die Feuer die brennen
das Feuer das brennt auf der Erde soll das Feuer von Abel sein
Und am Schwanz der Raketen sollen die Feuer von Abel sein